Dienstag, 15. Oktober 2013

Breaktown (4)



4.Kapitel


Morgens halb acht seinen ersten Schultag zu beginnen sollte echt verboten werden, dachte sich Eliza und quälte sich eine Stufe nach der anderen hinauf in ihren ersten Klassenraum. Wie erwartet starrte sie wirklich jeder an, sowohl Schüler als auch Lehrer. In einer Großstadt wär sie vermutlich einfach im Getümmel untergetaucht, doch leider hatte Breakburns High-School gerade mal 200 Schüler.
Nachdem Eliza das Frühstück ihrer Granma heruntergewürgt hatte ohne darüber nachzudenken was sie genau verdrückte, hatte sie sich die nächste Bushaltestelle gesucht. Nur ohne Erfolg: In Breaktown gab es keine Schulbusse, da sowieso alles zu Fuß erreichbar war. Ein eindeutiges Zeichen für ein kleines Hinterwäldler Dorf.
Sogar auf dem Weg zur Schule starrten sie Passanten an. Eliza befürchtete schon sie würde schlecht riechen oder gar einen riesigen Pickel auf der Stirn haben. Dabei hatte sie doch erst frisch geduscht. Außerdem wurde sie das Gefühl nicht los verfolgt zu werden. Was war nur mit ihr los in letzter Zeit? Warum kamen ihr so paranoide Gedanken?
Ihr Direktor Mr. Stiller war ein freundlicher alter Mann mit grauen Haaren. Er führte sie durch das zweistöckige Gebäude, während der Rest der Schülerschaft in den Klassenzimmern saß. Eliza gefiel die gemütliche Cafeteria und die große Schulbibliothek, die wohl gleichzeitig von Studenten und anderen Bewohnern genutzt wurde. Allerdings bekam sie jetzt schon Platzangst, wenn sie durch die schmalen Gänge spazierte. Wie nur sollte sie die Pausen überleben?
Zum Schluss brachte ihr Direktor sie in die neue Klasse, die sie für die nächste Zeit sicher noch öfter zu sehen bekam, leider. Doch wenn sie Glück hatte fand sie jemanden, der ihr bei ihrem Vorhaben behilflich sein konnte, damit sie so schnell wie möglich wieder nach Boston konnte.
Gemeinsam mit Mr. Stiller betrat Eliza den Raum in der Hoffnung, dass sich keine ihrer Befürchtungen bestätigte. In Wirklichkeit war es allerdings noch schlimmer. Zwanzig Augenpaare fixierten sie, inklusive die der leicht verwirrt aussehenden Lehrerin, die sich jedoch gleich wieder daran erinnerte, dass ihr Vorgesetzter dort durch die Tür kam.
Während Eliza nun direkt vor der gesamten Klasse stand und alles überblickte, stellte Mr. Stiller sie allen vor. Dabei hörte sie weniger auf sein Gerede und konzentrierte sich mehr darauf einen freien Platz im Raum zu finden möglichst weit entfernt von allen anderen, die ihr größten Teils sehr merkwürdig vorkamen.
Sehr auffällig war das Mädchen in der letzten Reihe, dass sie mit einem verabscheuungswürdigen Blick bedachte, unter dem Eliza sich unwillkürlich zu winden begann. Sie schien eine Vorliebe für alles Schwarze und unheimliche zu besitzen. Wahrscheinlich hielt sie sich Spinnen und mit Sicherheit auch Eulen als Haustiere. Eliza war sich sicher ab jetzt Abstand zu diesem Mädchen zu halten.
Weiter vorne bot sich ihr das genaue Gegenteil: Eine ebenfalls Schwarzhaarige mit leuchtenden Augen und strahlendem Gesicht. Für jemanden in einer so verkorksten Stadt schon fast zu fröhlich, dachte sich Eliza. Das Mädchen schien sich sogar für die Neue zu interessieren, während alle anderen gleichgültig oder misstrauisch waren. Doch war das jetzt positiv oder eher negativ in Breakburn?
Die Frage konnte wohl keiner so genau beantworten, der sich hier nicht auskannte. Eliza versuchte sich die meisten Gesichter einzuprägen und ihnen fiktive Namen zu geben wie „schwarzer Sonnenschein“,  „Gothic-Girl“, „Barbie“ oder „Freaky Freddie“ (sie wusste nicht wirklich wie er hieß aber sie fand den Namen irgendwie passend).
Mal abgesehen von ein, zwei Schülern schien der Rest einer normalen High-School Klasse zu entsprechen: Da gab es die Footballer, die Cheerleader, die Bücherfreaks, naja, und die „Normalos“. So wie sie selbst einer war.
Nachdem der Direktor endlich am Ende angelangt war, wünschte er Eliza viel Erfolg und „Spaß“ für die restliche Zeit, die sie nun an dieser Schule verbringen würde. Natürlich hatte er keine Ahnung, dass es sich nur um wenige Wochen handeln würde, wenn Eliza erst mal ihren Plan ausgearbeitet hatte.
Die Lehrerin, Mrs Buckett war ihr Name, teilte der Neuen einen Einzelplatz, so schien es zumindest, in der aller letzten Reihe zu. Das einzige Problem war dabei der unendlich lange Gang an allen Schülern vorbei. Eliza sah mehr Stolperfallen und Fettnäpfchen als ihr lieb war. Vorsichtig und dabei bedacht so gut wie niemanden in die Augen zu sehen, der sich dadurch vielleicht provoziert fühlen könnte, versuchte sie zu ihrem Platz zu gelangen. Und ehrlich gesagt klappte, dass auch ganz gut. Sie schien in dieser Klasse also nichts befürchten zu müssen. Bis jetzt zumindest nicht.
Ihre erste Stunde war, wie sollte es anders sein an so einem Tag, Mathe. Was genau hatten sich Pythagoras und Newton eigentlich gedacht, als sie ihre Formeln aufstellten. Waren sie vielleicht feindselige Menschenverächter und wollten alle in den Wahnsinn treiben? Bei Eliza könnte das zu treffen und bei vielen anderen sicher auch.
Glücklicherweise wurde die monotone Stimme von Mrs Buckett durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, so dass alle Schüler erleichtert aufatmeten. Eliza jedoch blieb gleichzeitig ihr Herz stehen, was sicherlich nicht gesund war. Jemand mit einer umwerfenden Aura betrat den Raum.
Er sah nicht besonders begeistert aus als er kurz in ihre Richtung blickte. Oder hatte sich Eliza das bloß eingebildet und er war allgemein schlecht gelaunt. Als Mrs Buckett ihn fragend ansah schien er jedenfalls auf einmal wie ausgewechselt. Auch wenn sein Verhalten etwas Ironisches an sich hatte.
„Einen wunderschönen guten Morgen Mrs Buckett“ grinste er die Lehrerin an, diese strahlte Zufriedenheit aus und war wohl geschmeichelt von seinen Worten.
„Es tut mir furchtbar leid wertvolle Minuten ihres Unterrichts verpasst zu haben, nur leider wurde ich aufgehalten.“ Setzte er fort. Während man in der Klasse schon Gelächter hörte und Eliza das Ganze nur albern vorkam, störte es Mrs Buckett anscheinend überhaupt nicht. Im Gegenteil der Junge wusste genau, wie er sie überzeugen konnte. „Eine kleine Katze brauchte meine Hilfe sonst wäre sie gestorben.“ Sein Blick setzte der alten tierliebenden Dame wohl den Rest zu und sie seufzte nur und bat ihn sich zu setzen.
Als er den Gang entlang ging, grinste er selbstgefällig und klatschte unterwegs noch die Hand seines Kumpels ab, vermutlich Footballspieler mit einer Vorliebe für große Autos.
Eliza sah ihm nicht in die Augen, aber sie beobachtete aus den Augenwinkeln, dass er genau den freien Platz neben ihrem ansteuerte. Ihr Herz klopfte und sie wurde nervös. Sie saß auf seinem Platz! Na toll, was sollte sie jetzt machen? Sie konnte ihn schlecht die ganze Zeit ignorieren. Vor allem bei seiner Präsenz und seinem Aussehen war das unmöglich. Seine Haare waren schwarz (war das vielleicht eine Modemacke in Breakburn?) und so gestylt, als hätte der Wind sie leicht durcheinander gebracht. Seine Augen hatten eine tief blaue Farbe. Eliza wusste nicht, dass Augen so eine Farbe annehmen konnten, deswegen war sie fest von einer Lichtspiegelung ausgegangen. Doch jetzt kam er immer näher auf sie zu und sie hatte keine Ahnung was sie jetzt tun sollte.
Schüchtern und mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen schaute sie ihn an, als er direkt vor ihr stand. Er lächelte zurück. Zwar leicht ironisch, aber was solls, Eliza war erleichtert. Sie nahm sich vor ihn ab jetzt nicht weiter zu beachten, das sollte die beste Lösung sein. Doch er hatte anscheinend andere Pläne.
Mit zu ihr gewandten Oberkörper sagte er: „Hey!“ Der Junge streckte ihr seine Hand entgegen. „Jonas“ meinte er. Mrs Buckett war wieder vollständig in ihren Zahlen versunken.
 „Eliza“ gab sie zurück und nahm seine Hand. Er drückte sie und zog das daran hängende Mädchen plötzlich mit einem Ruck näher an sich heran. Beinahe hätte Eliza vor Schreck aufgeschrien, aber sie hatte sich noch unter Kontrolle. Sie spürte seinen Mund nah an ihrem Ohr und wusste nicht was sie tun sollte. Sie spürte seinen Atem an ihrem Gesicht.
„Du bist neu hier nicht wahr?“ sie konnte nur zustimmend nicken und hoffen das keiner von den anderen Anwesenden etwas bemerkte. „Ich geb dir einen Tipp. Wenn du in dieser Stadt überleben willst, halt dich fern von Freddie, Janes Bruder.“ Jonas lockerte den Griff um Elizas Hand wieder und lehnte sich geheimnisvoll lächelnd zurück. Sie starrte ihn fragend an, doch er musterte sie nur, diesmal ohne jegliche Ironie. Er schien sich für sie zu interessieren.
Hatte sie mit ihrer Vermutung recht gehabt? Meinte er wirklich „Freaky Freddie“?
Vielleicht wollte er der Neuen auch nur Angst einjagen, um sie einzuschüchtern. Eliza hoffte, dass nichts von alledem bewahrheitete
Und wer um alles in der Welt war Jane? Eliza konnte sich das nicht erklären. In dieser Stadt schien es zu wimmeln von schwarzhaarigen, selbstverliebten, gruseligen Verrückten. Hatte sie am Morgen noch gehofft Freunde zu finden, war sie spätestens jetzt davon überzeugt es sein zu lassen.

Die Pause war genauso wie Eliza es sich vorgestellt hatte. In den Gängen bekam sie Bedrängungsängste, die sie vorher nur für Einbildung gehalten hatte. 200 Schüler kamen aus den Klassenräumen und drängten sich einer nach dem anderen an ihr vorbei. High-School Schüler waren dabei nicht besonders vorsichtig.
Viele Schüler rempelten sie an, die wenigsten entschuldigten sich. Sie hatte nichts andres erwartet. Die Gänge waren unnormal eng und überall stand etwas im Weg. Plötzlich stieß sie jemand mit voller Kraft von hinten an, so dass sie stolperte und mit ihrem Arm gegen den nächsten Spind stieß. Sie fluchte und rieb sich am Oberarm. Davon würde sie noch tagelang blaue Flecken haben.
Wütend machte sie den Idioten aus, der solche Schmerzen beschert hatte.  Blöderweise sah sie dabei direkt in Jonas meerblaue Augen. Ihr stockte der Atem und schon wieder schaffte Eliza es nicht einen Satz herauszubringen. Mittlerweile musste er schon denken sie sei stumm oder einfach nur zu bescheuert zum Reden.
„Hey“ und schon wieder dieses unwiderstehliche Lächeln, mit dem er mit Sicherheit alle Mädchen rumkriegte. „Tut mir echt furchtbar leid, die Jungs… ähm“ er zeigte auf die grinsenden und besonders unschuldig drein blickenden Objekte hinter ihm. Schließlich sah er wie sie sich immer noch an ihrem Arm rieb. Als sie seinen Blick auffing, nahm sie die Hand weg.
„Das wird ziemlich blau werden.“ Meinte er nur. Eliza wusste nichts darauf zu erwidern, so entstand eine unangenehme Pause zwischen ihnen, doch er wandte sich noch immer nicht zum Gehen. Stattdessen lehnte er mit einem Arm an dem Spind, an dem sich Eliza abstützte und sah auf sie herunter.
„Wie wärs“ schlug er vor „zur Entschädigung lad ich dich zum Essen ein und zeig dir die Gegend?“
Sie sah ihn zweifelnd an. Mittlerweile ertrug sie seinen Blick auf ihr und fand auch ihre Stimme wieder, so dass sie klar denken konnte.
„Ich weiß nicht.“
„Ach komm schon! Ich kenn ein paar interessante Gegenden hier, die dir sicher gefallen würden. Außerdem bin ich sicherlich eine der besten Partien in dieser Stadt. Kannst du jeden fragen.“ Er machte eine ausschweifende Handbewegung den Gang hinunter.
„Ja klar! Du scheinst mir nicht wie jemand, der die neue Unbekannte einfach mal so zum Essen einlädt. Auch nicht als Wiedergutmachung. Komm schon sag einfach, was du wirklich willst.“ Sie hatte keine Lust seine Spielchen weiter mitzuspielen, das Ganze ging zu weit. Es war ihr egal in welche Gegenden er sie locken wollte und was für Geschichten er ihr erzählte. Es war ihr auch gleichgültig wie gut er aussah… Ok das war es nicht wirklich. Aber sie kannte gerade mal seinen Namen und nachdem was sie in dieser Stadt bisher erlebt hatte, wollte sie keinen weiteren Fehler begehen. Immer noch liefen Schüler durch die Gänge und starrten das Paar an. Jonas drängte sich weiter an Eliza und ihr wurde immer unwohler.
„Ich will nur nett zu dir sein und dir helfen. In Breakburn überlebt niemand allein.“ Den letzten Satz flüsterte er und für Eliza stand fest: Jonas gehörte ebenfalls zum Club der geisteskranken Spinner. Eliza gab ein verächtliches Schnauben von sich und wollte sich gerade von ihm abwenden, als er sie schmerzhaft am verletzten Arm festhielt.
Mit angsteinflößend ruhiger Stimme sagte Jonas „ Du willst meine Hilfe nicht? Gut, aber glaub mir, dafür hast du dir eine denkbar schlechte Zeit ausgesucht, Eliza Cutter.“
Mit einem Lächeln auf den Lippen gab er ihr einen Kuss auf die Wange und so schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er plötzlich wieder. Eliza schaute ihm wie erstarrt hinterher, während er in der Masse verschwand.
Sie hatte Jonas Hilfe verweigert. Warum nur hatte sie das getan? Einen wie ihn wies man doch nicht einfach zurück.
Erst als es klingelte und sich alle wieder in ihren Unterricht begaben, löste sich ihre Starre, doch die Verwirrtheit blieb.

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